Auf dem Irrweg
Eine Kassiererin wird gefeuert, weil sie widerrechtlich Leergutbons im Wert von 1,30 € eingelöst hat. Ein Investmentbanker einer Pleitebank, die mit Milliarden an Steuergeldern gerettet wurde, erstreitet vor Gericht Bonuszahlungen. Diese Beispiele sind symptomatisch für die Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte: Eine kleine, globale Elite greift auf immer größere Brocken des Wirtschaftswachstums zu und teilt die Beute unter ihresgleichen auf. Gerechtfertigt wird dies mit der irrigen Annahme, dass freie, unregulierte Märkte Wohlstand und Stabilität schüfen und der Staat sich so weit wie möglich rauszuhalten habe. Ausgerechnet der sozialdemokratische Kanzler Gerhard Schröder profilierte sich als Champion einer neoliberalen Politik des Sozialabbaus und der Schwächung von Gewerkschaften. Die angebotsorientierte Strategie sollte dazu führen, Güter und Dienstleistungen billiger zu machen und so die Nachfrage anzukurbeln. Leider zeigten die Reformen kaum Erfolg: Die deutsche Wirtschaft stagnierte, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen weiter an. Bis die Große Koalition 2005 einen leichten Kursschwenk vornahm und konjunkturstimulierende Maßnahmen ergriff. Von dem darauffolgenden Aufschwung profitierte die Mehrheit jedoch nicht: Die Mehrwertsteuererhöhung und explodierende Rohstoffpreise belasteten Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen, die Reallöhne blieben deutlich hinter dem Produktivitätszuwachs zurück. Zugleich stiegen die Gewinne von Unternehmen und Aktionären.
Kapital hui, Arbeit pfui
Noch bis zum Beginn der 1980er Jahre gab es eine Tendenz zur immer stärkeren Gleichverteilung der Einkommen in Deutschland. Doch seither geht die Wohlstandsschere wieder auseinander, eine Entwicklung, die seit 2000 an Fahrt gewonnen hat. Einerseits sanken die Einkünfte der Mehrheit im Zuge der Arbeitsmarktreformen. Andererseits ermöglichte die Deregulierung der Finanzmärkte es wenigen Spezialisten, schwindelerregend hohe Einkommen zu erzielen. Der Spitzensteuersatz sank von 56 auf 42 %. Auf Kapitaleinkommen fallen pauschal nur 25 % an. Die Folge: Arbeit lohnt sich immer weniger. Die Gruppen der Gut- und Geringverdiener wachsen, die Mittelschicht schrumpft, während ihre Kaufkraft stagniert. Unternehmen sanieren sich auf Kosten der Steuerzahler, indem sie Gehälter zahlen, die unter der Grundsicherung liegen und vom Staat aufgestockt werden. Lohnzurückhaltung wurde als Allheilmittel für eine dynamischere, wettbewerbsfähigere Wirtschaft angepriesen und bewirkte letztlich doch das Gegenteil.
Umverteilung und Unsicherheit
Die Vorstellung von stabilen Märkten und rationalen Marktteilnehmern ist nicht nur idiotisch, sondern auch gefährlich. In Wahrheit geht es auf Finanzmärkten chaotisch zu. Investoren handeln intuitiv und unvorhersehbar. Sie huldigen Gurus und folgen blind der Herde, bis ein Leittier eine neue Witterung aufnimmt und in die entgegengesetzte Richtung galoppiert. Dies führt zur rasanten Steigerung und anschließenden Vernichtung von Vermögen an den Finanzmärkten. Die Realwirtschaft wird von dieser Unsicherheit angesteckt, da das Auf und Ab an den Finanzmärkten den Investitionsprozess, wenn auch mit einer gewissen Verzögerung, mitreißt. Das Finanzmarktrisiko ist mit dem der Atomkraft zu vergleichen: Man nahm an, die Märkte würden im Lauf der Zeit immer sicherer, und man glaubte, für Unfälle nicht mehr Vorsorge treffen zu müssen. Investmentbanker wurden durch Bonussysteme zu kreditfinanzierten Spekulationen ermutigt – angefeuert vom wachsenden Kapital der Wohlhabenden, das nach immer höheren Renditen verlangte. Dem stand eine sinkende Kaufkraft in der Gesamtbevölkerung gegenüber, Binnennachfrage und Investitionen gingen zurück.
„Deutschland hat sich auf den Weg zu einem plutokratischen System begeben, einem System also, das der Herrschaft des Reichtums unterliegt.“
Innerhalb von Europa führte dies zu enormen Ungleichgewichten. Deutschland gewann aufgrund stagnierender Löhne an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, der Export legte deutlich zu, und mit ihm die Außenhandelsüberschüsse. In anderen Ländern, etwa in Griechenland und Spanien, stiegen die Löhne; diese Länder verloren Marktanteile auf den Exportmärkten und fuhren Defizite ein. Kurzfristig ist eine solche Schieflage kein Problem, langfristig aber schon. Denn die Überschussländer häufen Kapital an, das sie an die Defizitländer verleihen, wodurch diese sich immer höher verschulden – ein sich selbst verstärkender Kreislauf. Es war die fatale Kombination aus Unsicherheit und Umverteilung – von unten nach oben und aus Defizitländern in Überschussländer –, die das System zum Einsturz brachte.
Anatomie der Krise
Deutsche Banken saßen vor der Finanzkrise auf einem riesigen Kapitalberg und waren für die gebündelten Hypothekarkredite aus den USA besonders empfänglich, als es dort bereits keine Abnehmer mehr für die Papiere gab. Das Misstrauen gegen diese Papiere begann sich zunächst schleichend auszubreiten. Die Zinsen für kurzfristige Ausleihen im Interbankengeschäft stiegen an, bald vertraute keine Bank mehr der anderen. Dann gerieten die so genannten Credit Default Swaps (CDS) in die Krise – das sind Wetten unbeteiligter Dritter darauf, ob ein Schuldner einen Kredit zurückzahlen wird oder nicht. Schließlich wurde es quasi unmöglich, überhaupt noch einen Kredit zu bekommen. Die Weltwirtschaft stand am Abgrund. Insgesamt gab es vier Deflationsspiralen, die ineinandergriffen und die Wirtschaft steil nach unten zogen: Erstens versuchten die Banken, von Panik getrieben, ausstehende Kredite so schnell wie möglich einzutreiben; neue Kredite wurden nur noch gegen große Sicherheiten vergeben. Zweitens wollten Privatanleger, die Schulden hatten, diese so schnell wie möglich begleichen und verkauften deshalb so viele Wertpapiere, wie sie konnten. Die Kurse befanden sich im freien Fall. Aus Sicht des einzelnen Verbrauchers war es drittens sinnvoll, zu sparen. Die Krux: Da alle es taten, brach die Nachfrage und mit ihr die Wirtschaft zusammen. Und viertens versuchten die Unternehmen panisch ihre Kosten zu reduzieren, indem sie Mitarbeiter entließen, Investitionen zurückschraubten und Lohnverzicht forderten.
Keynes ist zurück
Sind die milliardenschweren Bankenrettungspakete, die im Herbst 2008 aufgelegt wurden, angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeit, dass die Verluste der Banker und Spekulanten vom Steuerzahler übernommen wurden, zu rechtfertigen? Ja, leider. Denn ohne sie wäre es noch viel schlimmer gekommen. Auch die deutsche Bundesregierung erkannte – später als die meisten –, dass ein panischer Finanzmarkt sich nicht selbst heilen würde. Rettungsschirme und Bankgarantien waren aber nur ein erster Schritt. Widerwillig griffen die Anbeter der gescheiterten neoliberalen Lehre auf die guten alten Rezepte des Keynesianismus zurück. Aus den USA stammt das Modell der drei T: „timeley, targeted and temporary“. Ein Konjunkturprogramm muss demnach rechtzeitig zu Beginn der Rezession aufgelegt werden, zielgerichtet auf schnelle Ausgaben hin angelegt und zeitlich beschränkt sein. Haushalte und Unternehmen dürfen nicht in Versuchung geraten, das Geld aufs Sparkonto zu legen und auf bessere Zeiten zu warten. Steuersenkungen sind folglich der falsche Weg. Die deutsche Abwrackprämie und mehr noch die Kurzarbeiterregelung waren hingegen ein voller Erfolg. Der erwartete Beschäftigungsrückgang blieb aus. Die geleisteten Arbeitsstunden gingen zwar zurück, das Einkommen der Menschen aber blieb stabil, und damit brach im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der Konsum nicht ein.
Von einer Krise zur nächsten
Der Aufschwung gelang, doch die Probleme hörten nicht auf – nun ging es an die Staatsfinanzen. Neoklassische Ökonomen entwerfen oft ein Schuldenschreckensszenario, wenn sie behaupten, unsere Kinder und Enkel müssten irgendwann für unsere Schulden aufkommen. Das ist gelinde gesagt übertrieben. Staaten müssen Zinsen bezahlen und ihre Schulden refinanzieren. Sie werden sie aber nie komplett zurückerstatten, da sie, anders als Privatpersonen und Unternehmen, nicht sterben oder untergehen. Wenn während eines Abschwungs die Verschuldung zunimmt, können zusätzliche Steuereinnahmen während des Aufschwungs genutzt werden, um Belastungen abzubauen. Problematisch wird es dann, wenn diese Einnahmen zur Steuersenkung genutzt werden. Noch schwieriger ist es, wenn Staatsanleihen vorwiegend im Ausland platziert werden, wenn die Gläubiger des Staates also nicht zugleich seine Steuerzahler sind. Dann führen höhere Schulden zu einem Wohlstandstransfer vom In- ins Ausland, so geschehen im Vorfeld der Eurokrise.
„Marktwirtschaft ist das produktive Chaos, das jederzeit ausflippen kann, um in einen Zustand knallbunter Euphorie oder tiefschwarzer Panik zu verfallen.“
Das Rettungspaket der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds ermöglicht es den Krisenländern, günstigere Kredite aufzunehmen. Außerdem kauft die Europäische Zentralbank (EZB) Staatsanleihen der betroffenen Länder auf, um die Kurse zu stabilisieren. Diese Politik hat erfolgreich einen Flächenbrand vermieden. Doch die Ursachen für die Krise hat sie nicht beseitigt. Man hat schlicht zu lange übersehen, dass sich Leistungsbilanzkrisen auch innerhalb einer Währungsunion entwickeln. Der einheitliche Leitzins führt dazu, dass in einigen Ländern Blasen entstehen, während in anderen die Wirtschaft stagniert.
Aufbruch in ein neues Zeitalter
Mit einem forschen „Weiter so“ würden wir sehenden Auges auf die nächste Krise zusteuern. Die geschwächten Volkswirtschaften könnten einem Abwärtsstrudel nichts mehr entgegensetzen. Nur eine radikal erneuerte Wirtschaftsordnung mit folgenden Eckpfeilern kann das verhindern:
- Umbau des Finanzsektors: Investmentbanking, Private-Equity- und Hedgefonds-Aktivitäten werden strikt vom Bankgeschäft getrennt und Regulierungslücken werden geschlossen. Banken vermitteln zwischen denen, die Kapital anbieten, und jenen, die es nachfragen – nicht mehr und nicht weniger. Die Eigenkapitalrücklage wird von derzeit 4 auf 8 % erhöht, ohne Anrechnung von langfristig verliehenem Geld. All das drückt die Rendite – und das ist gut so. Der Finanzsektor muss sich gesundschrumpfen.
- Finanztransaktionssteuer: Eine Steuer von 0,05 % auf jede Finanzmarkttransaktion würde allein in Deutschland zwischen 17 und 37 Milliarden Euro einbringen. Damit könnte ein Teil der Krisenschulden beglichen werden. Die Abgabe ist gerecht und effektiv: Es gibt keinen Grund, warum wir für ein Brot Mehrwertsteuer bezahlen und für den Kauf einer Aktie nicht. Außerdem würde die Steuer hochspekulative Vorgänge wie die Ausnutzung winziger Margen bei einer hohen Zahl von Transaktionen einschränken.
- Verteilungsgerechtigkeit: Die Gesamtbevölkerung muss über wachsende Reallöhne an Wachstumserfolgen teilhaben. Der Wohlstandskuchen hält dann nicht nur besser zusammen, sondern wird insgesamt größer. Wenn es dagegen profitabler ist, zu spekulieren als zu investieren, werden der Realwirtschaft durch die hohen Renditen am Finanzmarkt lebensnotwendige Mittel entzogen.
- Ungleichheit vermindern: Echte Leistung muss sich wieder lohnen und die soziale Mobilität muss erhöht werden. Das bedeutet höhere Steuern für Einkommen, die nicht unmittelbar mit Leistung zu tun haben, also für Erbschaften, Kapitalvermögen und Immobilienbesitz. Die Erträge daraus werden u. a. gezielt in die Bildung investiert, um allen eine Chance zum Aufstieg zu bieten. Eine weitere Maßnahme ist die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen.
- Europäische Wirtschaftspolitik koordinieren: Stabiles Wachstum und Beschäftigung müssen neben der Preisstabilität Teil des EZB-Mandats sein. Die Leistungsbilanzunterschiede zwischen den Euroländern sollen sinken: Transfers von Überschussländern in die Defizitländer, wie es sie auch im deutschen Länderfinanzausgleich gibt, wären wünschenswert, sind derzeit politisch aber nicht durchzusetzen. Vorläufig sollte die EU-Kommission die Leistungsbilanzen überwachen und ggf. regulieren. Ist z. B. die Inflationsrate in einem Land dauerhaft zu hoch, dürfen dort die Löhne nicht zu stark steigen. Umgekehrt müssen sie in Ländern mit Deflationstendenzen angehoben werden.