Die Working-Capital-Falle
Steigende Arbeitslosenquote, sinkende Industrieproduktion und Verlustmeldungen der Unternehmen: Dies waren die Folgen der Finanzkrise ab 2007, die unglücklicherweise noch mitten im Konjunkturabschwung einsetzte. Zwar erholt sich die Wirtschaft wieder, doch die Banken sind bei der Kreditvergabe sehr zurückhaltend. Die Folge könnte eine Kreditklemme sein, d. h., es werden nicht so viele Mittel verliehen, wie unter den gegebenen Zinssätzen zu erwarten wäre. Die Unternehmen stecken nun in der Zwickmühle: Sie erhalten nur eingeschränkten Zugang zu Finanzmitteln, die sie dringend für neue Wachstumsinvestitionen bräuchten – weil sie während der Finanz- und Wirtschaftskrise Bestände und Kapazitäten zurückgefahren haben, um ihr Überleben zu sichern. Dies ist die Working-Capital-Falle. Wenn aber Geld von außen rar ist, bleibt erst einmal nur die Innenfinanzierung.
Die Self-Financeable Growth Rate
Natürlich hängt das mögliche Wachstum auch von Faktoren wie der Stimmung auf den Arbeits- und Absatzmärkten ab. Doch die Finanzlage eines Unternehmens wird zu einem Gutteil von seiner Ausgangsposition bestimmt. Wie stark kann ein Unternehmen wachsen, ohne auf Finanzierung von außen angewiesen zu sein? Dies können Sie mit der Self-Financeable Growth Rate (SFGR) errechnen. Sie bezeichnet die Wachstumsrate, die ein Unternehmen mithilfe des eigenen operativen Cashflows erreichen kann, ohne auf Außenfinanzierung oder Investitionsverkäufe zurückgreifen zu müssen, und wird durch drei Faktoren bestimmt:
- Der Operating Cash Cycle (OCC) ist die Zeitspanne zwischen dem Eingang der Ressourcen bzw. Vorräte in Ihrem Unternehmen und dem Zahlungseingang des Kunden. Er setzt sich zusammen aus den Days Inventory Held (DIH), d. h. der Zeit, während der Sie die Vorräte in der Firma halten, bevor das Endprodukt an den Kunden verkauft wird, und den Days Sales Outstanding (DSO), d. h. dem Alter der Forderungen aus Lieferungen und Leistungen. Berechnen Sie die Kennzahlen nach folgenden beiden Formeln:
„Die Kombination von steigendem Liquiditätsbedarf durch Wachstum und dem geringen durchschnittlichen Bestandsniveau eines Unternehmens bei gleichzeitig erschwertem Zugang zu Fremdkapital kann als ,Working-Capital-Falle‘ beschrieben werden.“
DIH = Vorräte x 365 Tage / Herstellungskosten DSO = Forderungen aus Lieferungen und Leistungen x 365 Tage / Umsatzerlöse
- Zur Berechnung der benötigten Finanzmittel pro OCC addieren Sie die Mittelbindung der Herstellungskosten (MHK) mit jener der sonstigen Aufwendungen (MSA).
„Der OCC umfasst die Zeitperiode, in welcher beim Unternehmen finanzielle Mittel in Lagervorräten sowie anderweitigem Umlaufvermögen gebunden sind, bevor der Zahlungseingang für die erbrachten Leistungen erfolgt.“
MHK = (MHK in Tagen x Herstellungskosten) / (OCC x Umsatzerlöse) MSA = (MSA in Tagen x sonstige Aufwendungen) / (OCC x Umsatzerlöse)
- Die frei verfügbaren Mittel pro OCC entsprechen der Umsatzrendite, d. h. den Umsatzerlösen abzüglich Herstellungskosten und sonstigen Aufwendungen.
„Der Economic Value Added als Maß des Unternehmenswertes lässt sich sowohl durch eine Verbesserung des Betriebsergebnisses als auch durch eine Reduzierung der Kapitalkosten steigern.“
Aus diesen Daten errechnet sich die annualisierte SFGR wie folgt:
Annualisierte SFGR = ((1 + (frei verfügbare Mittel pro OCC in Dezimaldarstellung) / (benötigte Finanzmittel pro OCC)) ˄ (365 / OCC)) – 1
Um diese Wachstumsrate zu steigern, können Sie z. B. den OCC verkürzen, indem Sie die Lagerbindungsdauer senken, die Kunden zu einer früheren Zahlung anhalten oder Ihre Lieferanten später bezahlen. Wenn das nicht möglich ist, bleiben noch höhere Umsätze oder geringere Herstellungskosten als Ausweg.
Optimierung des Cash-to-Cash Cycle
Der Cash-to-Cash Cycle ist die Zeit zwischen Ihrer Zahlung an den Lieferanten und der Zahlung des Kunden an Sie. Da Ihr Kapital nicht zu lange gebunden sein darf, sollte der Cash-to-Cash Cycle möglichst kurz sein. Berechnen Sie die Dauer dieses Zyklus, indem Sie von der Summe aus DIH und DSO die Days Payables Outstanding (DPO) abziehen. Diese errechnen sich so:
„In der Praxis findet ein gemeinsames Auftreten von Lieferant und Abnehmer gegenüber Vorlieferanten vor allem in Branchen mit geringer Wertschöpfungstiefe und folglich mit einem hohen Materialkostenanteil statt.“
DPO = Verbindlichkeiten aus Lieferungen und Leistungen x 365 / Herstellungskosten
Je länger Sie die Bezahlung Ihrer Lieferanten hinauszögern, desto besser. Allerdings dürfen Sie auch die Kosten nicht vernachlässigen, die dadurch entstehen, dass Sie Skonti nicht nutzen.
Das Netto-Umlaufvermögen (Net Working Capital) stellt die Differenz zwischen dem Umlaufvermögen und den kurzfristigen Verbindlichkeiten dar. Es spielt bei der Berechnung des Unternehmenswertes (Economic Value Added) eine große Rolle, da dabei vom Geschäftsergebnis nach Steuern die Kapitalkosten abgezogen werden. Die Kapitalkosten wiederum sind das Produkt aus dem Kapitalkostensatz und dem investierten Kapital, das sich im Großen und Ganzen aus dem Net Working Capital und dem Anlagevermögen zusammensetzt. Je geringer also das Net Working Capital – d. h. hohe Verbindlichkeiten und wenig Vorräte und Forderungen –, desto geringer das investierte Kapital und desto niedriger die Kapitalkosten. Wollen Sie den Unternehmenswert erhöhen, treffen Sie folgende Maßnahmen:
- Automatisieren und beschleunigen Sie den Rechnungsstellungsprozess.
- Verkaufen Sie Forderungen mittels Factoring.
- Versuchen Sie, Waren auf Vorauskasse zu verkaufen, und machen Sie eine rasche Bezahlung durch Skonti schmackhaft.
- Gehen Sie Partnerschaften mit den Lieferanten ein, im Zuge derer sich diese um das Lager kümmern.
- Bieten Sie weniger Varianten eines Produkts an und versuchen Sie, Lagerstufen zu eliminieren bzw. Zwischenlager zu vermeiden.
- Standardisieren Sie Ihre Zahlungsprozesse, damit Sie Ihre Rechnungen weder zu früh noch zu spät begleichen.
Maßnahmen zur Stärkung der Innenfinanzierungskraft
Verhandeln Sie mit Ihren Lieferanten über eine Steigerung der Skontosätze oder diskutieren Sie die Möglichkeit, sie später zu bezahlen. Dies geht natürlich dann am besten, wenn Sie über eine hohe Markt- und damit Verhandlungsmacht verfügen. Da höhere Skontosätze und längere Zahlungsfristen zwei konkurrierende Ziele sind, können Sie nur schwer beide gleichzeitig verfolgen. Konzentrieren Sie sich auf die relevantesten Lieferanten und Warengruppen. Gehen Sie bei der Kontaktaufnahme mit den Lieferanten und bei den Verhandlungen strukturiert vor; messen Sie den Erfolg anhand definierter Kennzahlen und halten Sie die neuen Zahlungskonditionen in Ihren allgemeinen Geschäfts- bzw. Einkaufsbedingungen fest.
„Insbesondere größere Abnehmer, die über viele kleine regionale Lieferanten verfügen, gewinnen an Marktmacht, wenn sie unternehmensintern Volumina aggregieren und über ihre Lieferanten hinweg bei den Vorlieferanten als Käufer auftreten.“
Ein hoher Lagerbestand verursacht Lagerkosten sowie Kosten, die dadurch entstehen, dass Sie Kapital gebunden haben. Nehmen Sie zunächst eine Analyse der Ist-Situation vor. Welche Bestände liegen in welchen Typen von Lagern vor? Unterscheiden Sie die dadurch verursachten Kosten und klassifizieren Sie sie nach Opportunitätskosten (Kosten, die dadurch entstehen, dass das Kapital nicht für andere Investitionen bereitsteht), Lagerhauskosten, Versicherungskosten, Lagerrisikokosten und Fehlmengenkosten (Kosten durch die Nichtverfügbarkeit von Waren). Sie müssen eine angemessene Balance zwischen Versorgungssicherheit und Kosten finden.
„Wie die Bezeichnung vermuten lässt, stellt Reverse Factoring ein umgekehrtes Factoring dar. Dabei wird der Abnehmer zum Initiator des Factorings, das zur Finanzierung eines Lieferanten dient.“
Unterteilen Sie die Waren mithilfe einer ABC-Analyse in A-Artikel mit einem geringen Anteil am Lager, aber hohem Wert, B-Artikel mit einem mittleren Anteil und geringem Wert sowie C-Artikel mit einem hohen Anteil und geringem Wert. Für Waren der Gruppe A schließen Sie langfristige Rahmenverträge ab und streben nach einer Just-in-time-Lieferung. C-Artikel kaufen Sie auf einmal am Anfang der Periode in optimaler Menge.
Lieferantenmanagement
Nachdem Sie Ihre wichtigsten Warengruppen identifiziert haben, analysieren Sie den Beschaffungsmarkt. Das ist leichter gesagt als getan, doch die Qualität der Daten ist ein entscheidendes Erfolgskriterium. Erstellen Sie eine Liste von Alternativlieferanten, standardisierte Ausschreibungsunterlagen und eine Datenbank mit den wichtigsten Informationen zu jedem Lieferanten. Bei der Auftragsvergabe sind diese Strategien denkbar:
- Second Source: Sie bleiben bei Ihrem Stammlieferanten, vergeben aber einen Teil an einen günstigeren Anbieter.
- Geografische Diversifikation: Sie kaufen bei mehreren Lieferanten, die verschiedene Standorte bedienen.
- Multisource: Jeweils der billigste Anbieter liefert eine Warengruppe; dies kann aber mit hohen Koordinations- und Lieferkosten einhergehen.
Maßnahmen aus Supply-Chain-Sicht
Die bisherigen Maßnahmen führen, wenn man die Beschaffungskette betrachtet, zu einem Nullsummenspiel: Bezahlen Sie z. B. Ihre Lieferanten später, steigt zwar Ihre Liquidität, doch jene des Anbieters sinkt. Die Einbeziehung der gesamten Beschaffungskette kann dagegen zu einer unternehmensübergreifenden Optimierung des Cash-to-Cash Cycle und zu einer Win-win-Situation für alle Beteiligten führen.
- Beim finanzierungsorientierten Supply–Chain-Sourcing bündeln und stärken Sie und Ihr Lieferant gemeinsam Ihre Einkaufsmacht. Die anfänglichen Kosten werden dabei durch günstigere Zahlungskonditionen für beide Partner ausgeglichen. Der Aufwand lohnt sich insbesondere dann, wenn die Materialkosten im Vergleich zu den Gesamtkosten Ihres Produkts hoch sind. Wenn Sie über eine starke Verhandlungsmacht verfügen, nicht aber Ihre Lieferanten, dann beschaffen Sie am besten die Mengen für die Lieferanten.
- Im Rahmen der Supply-Chain-orientierten Lieferantenfinanzierung spielen Dritte – z. B. Banken – eine Rolle. Eine Variante davon ist das Reverse Factoring zur Finanzierung des Zulieferers. Sie kaufen etwas von Ihrem Lieferanten, die Factor-Gesellschaft bezahlt ihn vorerst abzüglich des Skontos. Später bezahlen Sie dem Factor die Rechnung inkl. Finanzierungskosten, die schließlich zwischen Ihnen und dem Lieferanten aufgeteilt werden. Rechnen Sie die Ihnen entgangenen Skonti zusammen, wird klar, dass es sich hierbei um eine ziemlich kostspielige Finanzierung handelt. Andererseits verkürzen sich damit Ihr eigener Cash-to-Cash Cycle und der des Lieferanten. Zur Supply-Chain-orientierten Lieferantenfinanzierung gehört auch die unternehmensübergreifende Finanzierung von Investitionsgütern. Bieten Sie einem strategisch wichtigen Lieferanten Zugriff auf Ihre Finanzierungskonditionen bei Banken oder agieren Sie selbst als Kreditnehmer, damit Ihr Lieferant für die hohen Kosten für Forschung und Entwicklung oder für Maschinen nicht alleine aufkommen muss. Dafür ist zwar viel Vertrauen notwendig, doch lässt sich damit auch das Lieferantenausfallrisiko reduzieren.
- Collaborative Cash-to-Cash-Management nennt man die Zusammenarbeit zwischen Lieferant und Abnehmer, um Synergien im Cash-to-Cash-Management zu generieren. Sehen Sie sich z. B. die Lagerhaltungskosten Ihrer Lieferanten an. Sind diese geringer als Ihre eigenen, stellen Sie auf eine Just-in-time-Lieferung um, bei der die Waren länger im Lager des Lieferanten bleiben. Oder hat Ihr Unternehmen niedrigere Kapitalkosten? Dann bezahlen Sie den Zulieferer früher. Die dadurch erzielten Einsparungen teilen Sie sich, etwa in Form niedrigerer Einkaufspreise.