Das unterschätzte Mittelmaß
Niemand will mittelmäßig sein. In einer Umfrage bezeichneten sich neun von zehn deutschen Führerscheininhabern als überdurchschnittlich gute Autofahrer. Das allerdings ist schon rein statistisch unmöglich. Woher stammt eine solche Selbstüberschätzung? Unser Gehirn neigt zur Eitelkeit und will uns nicht als durchschnittlich sehen. Also konzentrieren wir uns bei der Bewertung unserer Fahrkünste auf die Fertigkeiten, in denen wir tatsächlich herausragen. Dann wird z. B. die Beherrschung des Rückwärtseinparkens zum absoluten Maßstab für hervorragende Fahrleistungen gemacht, und schon ist man überdurchschnittlich gut.
„Das Mittelmaß hat es schwer. Ihm wird – nicht nur beim Autofahren und in der Schule – Verachtung und Spott zuteil.“
Bereits in der Schule lernen wir, das Mittelmaß gering zu schätzen. Wer etliche Einsen im Zeugnis hat, dem werden schlechtere Leistungen in einzelnen anderen Fächern nachgesehen. Wer aber lauter Dreien bekommt, wird dafür selten gelobt, auch wenn er damit eine gleichmäßig befriedigende Leistung erbracht hat.
„Anders als das Genie stehen die Angehörigen der Elite nicht mehr außerhalb des Maßstabs der bürgerlichen Gesellschaft, sie stehen an ihrer Spitze oder – um es pointierter zu formulieren – sie sind der Maßstab der bürgerlichen Gesellschaft.“
In der heutigen Zeit ist der Geniekult, die Verehrung einzelner großer Geister, abgeflaut. Stattdessen richten wir unser Augenmerk auf die Eliten, also auf ein Kollektiv an der Spitze der bürgerlichen Gesellschaft. Die beiden Konzepte unterscheiden sich gravierend: Genialität wird einem in die Wiege gelegt, niemand kann allein aufgrund persönlicher Anstrengung zu einem Genie werden. Zu einem Angehörigen der Elite kann aber theoretisch jeder aufsteigen, unabhängig von ererbten Privilegien. So lautet zumindest der von den Eliten selbst geförderte Mythos.
Warum es vor allem um Ressourcen geht
Im Hinblick auf Eliten ergeben sich zwei Fragen: Die eine ist, inwieweit sich der Aufstieg in die Elite tatsächlich meritokratisch gestaltet, also durch eigene Leistung, nicht durch Privilegien. Zumindest in Ansätzen sollte dabei Chancengleichheit herrschen. Die andere Frage, die sich vor allem angesichts knapper finanzieller Ressourcen stellt, ist die, wie viel Geld zur Elitenförderung im Vergleich zur Förderung anderer ausgegeben werden sollte.
„Verdienst, Leistung und eigene Anstrengung, nicht Geburt, Genetik oder Privileg erlauben den Zugang zum Kreis der Elite. So jedenfalls will es der Mythos, der gerade von den Eliten selbst gepflegt wird.“
Was nämlich geschieht mit den Menschen, die das Etikett „Mittelmaß“ tragen? Offensichtlich erfahren sie wenig Förderung. Das ist allerdings ungerecht, denn das Mittelmaß bildet das Fundament der Gesellschaft. Weder Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur noch der Sport, die Unterhaltungsindustrie und die Politik können ohne das Mittelmaß überleben. Wir alle sind in dem meisten, was wir tun, mittelmäßig. Deswegen brauchen wir uns nicht schlecht zu fühlen, denn unsere Fähigkeiten werden dadurch nicht wertlos. Ein Hobbymarathonläufer wird immer hinter den Spitzenläufern zurückbleiben, trotzdem gebührt ihm Anerkennung für seine persönliche Anstrengung und Leistung.
„Politik und Gesellschaft stecken trotz knapper werdender finanzieller Mittel sehr viel Geld in die Elitenförderung.“
„Mittelmäßigkeit“ bedeutet, dass man mehr erreichen könnte, es aber aus Bequemlichkeit oder aus mangelndem Mut und fehlender Entschlossenheit nicht tut. Wer aber „mittelmäßig“ im Sinn von „Mittelmaß“ ist, braucht sich dessen nicht zu schämen, solange er sein Bestes gibt. Im Grunde geht es in Bezug auf den Umgang mit dem Mittelmaß um zwei Aspekte: Der eine ist die Wertschätzung derjenigen, die in allen gesellschaftlichen Bereichen die tragende Säule darstellen und den Hauptteil der alltäglichen Arbeit leisten. Der andere ist die Frage nach der Ressourcenverteilung in unserer Gesellschaft.
„Selbst ein vierter oder fünfter Platz unter den weltbesten Sportlern gilt als Niederlage des ganzen Landes und löst eine Diskussion über die bessere Förderung des Spitzensports aus.“
Die Intelligenz eines Menschen wird vor allem von der genetischen Ausgangsbasis und seiner Umwelt bestimmt. Auch das Genie braucht grundsätzlich positive Umweltbedingungen. Die gleichen positiven Umweltbedingungen können den Mittelmäßigen helfen, ihr Potenzial besser zu entfalten. In diesem Sinn ist eine ideale Umwelt für alle wichtiger als Spitzenbedingungen für wenige. Angesichts knapper werdender Ressourcen ist es von größerer Bedeutung, den minimalen Bedürfnissen des Mittelmaßes gerecht zu werden, als den Großteil der Mittel zur Förderung weniger Hochbegabter einzusetzen.
Mittelmaß aus philosophischer Sicht
Für die griechische Philosophie der Antike war „Mittelmaß“ ein wichtiger Begriff. Die Griechen glaubten, dass die Menschen von sich aus nur zu mittelmäßigen Leistungen fähig seien. Außergewöhnliches konnten nur Halbgötter leisten oder Menschen, denen die Götter beistanden bzw. deren Inkarnation sie waren. Der Philosoph Aristoteles bevorzugte das Mittelmaß, die goldene Mitte zwischen Extremen, etwa die Tapferkeit als Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Die Stoiker, zu denen auch der römische Kaiser Marc Aurel zählte, stellten „das richtige Maß“ ins Zentrum ihrer Ethik. Auch die christliche Philosophie achtete das Mittelmaß und die Mäßigung hoch. Für den Philosophen Immanuel Kant war das Mittelmaß die Basis des Schönen. Jeremy Bentham, der Begründer der Philosophie des Utilitarismus, sprach vom „größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl“.
„Der Nachwuchs leitender Angestellter schaffte es rund zehnmal so oft in die Spitzenetagen wie Söhne aus Arbeiterfamilien, von deren Töchtern ganz zu schweigen.“
Ab dem 18. Jahrhundert verlor das Mittelmaß zunehmend an Wertschätzung. Goethe verachtete dessen Vertreter als „Philister“. Dichter wie Heinrich Heine hielten die Mäßigung als Mitte zwischen den Extremen für den Ausdruck einer lauwarmen Gesinnung. Friedrich Nietzsches Ideal war der Übermensch, der alles Mittelmaß weit überragte. Mäßigkeit war für ihn dasselbe wie Mittelmäßigkeit.
Warum Mittelmaß nicht Mittelmäßigkeit sein muss
In den letzten Jahrzehnten hat die durchschnittliche Intelligenz in den Industrienationen (gemessen durch Intelligenztests) jeweils um 3–8 % zugenommen. Als mögliche Ursache werden etwa bessere Ernährung oder weniger Blei im Leitungswasser vermutet. Mehrheitlich gehen die Wissenschaftler aber davon aus, dass die erhöhte Komplexität unseres modernen Alltags, die das abstrakte Denken fördert, dafür verantwortlich ist.
„Unabhängig davon, wie berechtigt es sein mag, sich selbst zu einer Elite zu zählen – ohne die Mittelmäßigen, die die Kärrnerarbeit erledigen, sind die Eliten (ebenso wie die herrschende Klasse) zum Misserfolg verdammt.“
Es reicht aus, wenn alle Kinder ein Mindestmaß – oder eben ein Mittelmaß – an Bildung und Förderung erfahren. Bei einer mittelmäßigen Ausbildung setzen sich die Hochintelligenten von alleine durch, während gleichzeitig die Normalintelligenten eine genügende Förderung erfahren. Extreme im Bildungswesen, wie in den USA mit wenigen Eliteschulen und mangelnder Ausbildung der Masse, führen dagegen zu schlechteren Ergebnissen. Zudem hat sich gezeigt, dass in den Industriestaaten das Wirtschaftswachstum von der Ausbildungsqualität der Mehrheit der Schüler abhängt.
Wie viel Elite brauchen wir wirklich?
Unter den Universitätsabgängern mit Doktortitel sind diejenigen mit großbürgerlicher Herkunft beruflich erfolgreicher als andere. Betrachtet man die Wirtschaftselite, ist die Auslese im Lauf der Zeit sogar noch selektiver im Hinblick auf die Herkunft geworden. Das macht deutlich: Die angebliche Leistungsgesellschaft funktioniert gar nicht nach dem Prinzip der Bestenauswahl.
„Ist das Geld besser angelegt, wenn olympische Spitzenleistungen einiger weniger Topathleten staatlich gefördert werden oder wenn Millionen von Bürgern in den Genuss besserer Freizeitsportmöglichkeiten kommen?“
Allerdings ist die Illusion, dass vor allem Leistung den Ausschlag gibt, für alle Beteiligten wichtig. Die weniger Privilegierten strengen sich dann nämlich entsprechend an und formen so einen gesellschaftlichen Mittelstand, von dem auch die Eliten profitieren. Es ist jedoch nicht ideal, dass die Eliten auf diese Weise weitgehend unter sich bleiben. Denn dieser „Inzest der Eliten“ bringt die Gefahr der Degeneration mit sich, da andere Sichtweisen und Ideen ausgeblendet werden.
„Wohlstand und die Annehmlichkeiten einer modernen Zivilisation sind das Ziel – und die Ökologie dient dazu, dass möglichst viele Menschen diese Errungenschaften möglichst unbeeinträchtigt und dauerhaft genießen können.“
Wer zur Wirtschaftselite gehört, hat meist von zu Hause aus genügend finanzielle und gesellschaftliche Vorteile für den Karriereweg. Eine weitere Elitenförderung durch öffentliche Mittel ist daher gar nicht nötig. Es ist sinnvoller, solche gesellschaftliche Ressourcen für die akademische oder berufliche Ausbildung der Mittelschicht zu verwenden.
Warum die Politik das Mittelmaß braucht
Die meisten Deutschen sind politikverdrossen, und das unabhängig davon, welche Parteien gerade an der Regierung sind. US-Präsident Barack Obama hat im Wahlkampf regelrechte Heilserwartungen ausgelöst – umso enttäuschter waren seine Wähler später. Die Menschen sind nur dann mit der Politik zufrieden, wenn sie ihre Erwartungen realistisch gestalten, anders gesagt: wenn ihnen ein vernünftiges Mittelmaß genügt. Gerade vor Wahlen neigen Politiker zu unrealistischen Versprechen. In der politischen Praxis führt das dann fast automatisch zu einem Scheitern. Die Lösung liegt darin, dass wir alle das Mittelmaß im Regelfall als das eigentliche Ziel von Politik sehen.
Mittelmaß im Sport
Wenn nur noch Goldmedaillen oder Weltrekorde zählen, führt das unweigerlich zur Enttäuschung und oft auch zum Doping. Das greift sogar auf den Freizeitsport über, wo nach Expertenschätzungen in Deutschland jährlich rund 100 Millionen Euro für Doping aufgewendet werden. Bei den Profisportlern mag es noch um Sponsorengelder oder Werbehonorare gehen, bei Freizeitsportlern ergibt das aber keinerlei Sinn mehr. Die Lösung besteht darin, das Mittelmaß als Leistung zu schätzen, solange es auf einer ehrlichen persönlichen Anstrengung fußt. Gerade im Hinblick auf die allgemeine Gesundheit wäre es sinnvoller, die Freizeitmöglichkeiten von Millionen von Bürgern zu fördern und nicht nur den Spitzensport.
Mittelmaß bei Ökologie und Ökonomie
Man kann etwa aus ethischen oder religiösen Gründen beim Umweltschutz Maximallösungen anstreben. Aber dafür wird sich meist kein Konsens finden lassen. Es ist deshalb auch hier sinnvoll, ein Mittelmaß anzustreben. Im Grunde wäre ein solcher ökologischer Kompromiss im Sinn eines Interessenausgleichs sogar die Ideallösung, weil so kein Widerspruch zwischen hohem Lebensstandard und dem Umwelt- und Tierschutz bestehen würde. Letzterer würde dann zur Voraussetzung für einen hohen Lebensstandard.
„Niemandem wäre mit Unternehmen gedient, die nur mittelmäßige Produkte herstellen – so wie sich niemand eine mittelmäßige Umweltpolitik wünschte. Doch das mittlere Maß, der Ausgleich der Interessen und Ambitionen, ist in beiden Fällen ein guter Maßstab.“
Ähnliches gilt auch für wirtschaftliche Interessen. Da die globale Wirtschaft nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung funktioniert, ist es für Unternehmen schwierig, ein gesundes Mittelmaß anzustreben. Familienunternehmen fällt es leichter, kurzfristige Gewinne zugunsten langfristiger positiver Entwicklung zurückzustellen. Unterstützt wird diese Einstellung nicht vom Kapitalmarkt oder den Großbanken, sondern vor allem von kleinen und mittleren Sparkassen sowie von Volks- und Raiffeisenbanken als Kapitalgebern. Deshalb wäre es sinnvoll, wenn die Politik sich nicht in erster Linie an Großunternehmen orientieren würde. Auch im Hinblick auf die Arbeitsbeziehungen in den Unternehmen gilt es, stärker für ein stabiles Mittelmaß an Mitarbeitern zu sorgen, statt nur Spitzenkräfte anzuziehen. Ein Unternehmen braucht vor allem Mitarbeiter, die verantwortlich und zuverlässig arbeiten, und nicht solche, denen es hauptsächlich um die Selbstprofilierung geht.
„Mittelmaß heißt nicht Stillstand, heißt nicht, sich treiben zu lassen. Auch das Mittelmaß bedarf steter Anstrengung und eines gewissen Eifers. Es heißt aber sehr wohl, die Beschränktheit menschlicher Möglichkeiten zu erkennen – und anzuerkennen. Das Mittelmaß ist somit das menschengerechteste Maß.“
Es erfordert aber auch Anstrengung, zu einem soliden Mittelmaß zu gehören. Vor allem gilt es, Extreme zu vermeiden und anzuerkennen, dass wir alle in unseren Möglichkeiten beschränkt sind.