Was ist systemisches Denken?
Egal ob im Berufs- oder im Privatleben: Viele Situationen und Vorgänge sind äußerst komplex. Wer sie durchschauen will, muss sie ganzheitlich betrachten. Das klingt nach Vereinfachung, kann aber ziemlich aufwändig und kompliziert sein. Ein Instrument zur Beschleunigung des ganzheitlichen Denkens ist das systemische Denken. Wer es beherrscht, wird selbst die kompliziertesten Zusammenhänge verstehen. Und das ist zum Vorteil aller Beteiligten: Denn Entscheidungen, die erst gefällt werden, nachdem man einen Vorgang wirklich durchschaut hat, sind sinnvoller und halten länger.
„Die meisten Ursache-Wirkungs-Beziehungen gehen mit Zeitverzögerungen Hand in Hand, denn nur selten führt eine Handlung sofort zu einem Ergebnis.“
Um zu verstehen, was es mit dem systemischen Denken genau auf sich hat, sollte man zunächst den Begriff analysieren. Ein System besteht nicht einfach aus wild zusammengewürfelten Elementen. Vielmehr sind die Einzelteile nach einer bestimmten Logik miteinander verbunden. Darum bringt es nichts, zur Lösung eines komplexen Problems die Einzelteile näher zu betrachten. Denn sobald Sie beginnen, einzelne Stücke aus dem Ganzen herauszulösen, bricht das gesamte System zusammen. Wenn Sie z. B. an der Schraube einer großen Maschine drehen, wird das vermutlich Auswirkungen auf das Gesamtprodukt haben. Oder ein anderes Beispiel: Wer ein Pferd teilt, wird keine zwei Pferde bekommen, die den Wagen ziehen, sondern muss sich selbst einspannen. Denn zwei Pferdehälften werden überhaupt nichts mehr ziehen können.
Die Bedeutung von Feedback
Die einzelnen Elemente eines Systems müssen nicht mit Ketten aneinandergebunden sein. Oft entstehen Systeme, ohne dass sie einem bewussten Prozess unterliegen. So bilden beispielsweise die einzelnen Körner in einem Sandsturm ein dynamisches System, ohne eine Ahnung davon zu haben. Ein Fahrradfahrer, der dem Rad durch das Treten der Pedale Energie zuführt, bildet gemeinsam mit dem Fahrzeug ein dynamisches System. Das kann jedoch nur funktionieren, wenn es eine Art Rückkopplung gibt, also einen ständigen Abgleich von Aktion und Reaktion. Der Radfahrer wackelt, wenn er durch ein Schlagloch fährt, doch er kann sich wieder ins Gleichgewicht bringen. Ist das Schlagloch allerdings zu tief, bricht das System zusammen, denn dann gelingt es dem Fahrer nicht mehr, die Unebenheit auszugleichen. Diese einfachen Beispiele zeigen: Es ist wichtig, die Situation als Ganzes wahrzunehmen, sie ganzheitlich zu betrachten. Das gilt übrigens auch für ein Team: Es reicht nicht aus, all dessen Mitglieder zu kennen, denn daraus ergibt sich noch keine Aussage darüber, wie sie gemeinsam agieren. Ein Hochleistungsteam funktioniert – wie das Fahrer-Fahrrad-System – erst dann, wenn sich die zusammenarbeitenden Elemente regelmäßiges Feedback geben.
Systemisches Denken in der Praxis
Systemisches Denken kann sehr gut im Berufsalltag eingesetzt werden. Nehmen wir das Beispiel einer Investmentbank, in der Kosten gespart werden sollen. In der Bank gibt es ein Frontoffice, in dem mit Wertpapieren gehandelt wird. Die Mitarbeiter im Backoffice müssen die Käufe und Verkäufe richtig verarbeiten und stehen im Regelfall unter großem Druck. Außerdem gibt es eine Abteilung, die sich um die Computer- und Softwarefragen des Unternehmens kümmert, sowie eine Personalabteilung und natürlich den Vorstand. Um Kosten zu sparen, wurde das Backoffice schon vor Jahren auf ein Minimum eingedampft und mit Zeitarbeitskräften wieder aufgefüllt – eine Maßnahme, die sich natürlich auf das gesamte System auswirkt: Mit weniger Mitarbeitern nimmt die Belastung für den Einzelnen zu, was zu mehr Fehlern führt und den Druck auf die Manager erhöht. So wächst die Belastung dort und damit natürlich wiederum die Fehlerquote.
„Entschlossenheit ist nicht mit übereilten, leichtsinnigen Schnellschüssen gleichzusetzen.“
In jedem Unternehmen können die Verhältnisse durch systemisches Denken in Form von Diagrammen dargestellt werden, um sie wirklich transparent zu machen. Da ist beispielsweise das Wirkungsdiagramm, das auch Kausalitätskreis genannt wird. Darin werden Beziehungen mit Pfeilen, Plus- und Minuszeichen grafisch dargestellt, z. B. nach der Regel: „Wenn x und y größer werden, dann nimmt auch z zu.“ Außerdem gibt es Flussdiagramme, die sich durch eine höhere Anzahl von Variablen auszeichnen, die zudem spezifischer sind.
„Alle eskalierenden Feedbackschleifen zeigen entweder exponentielles Wachstum oder exponentiellen Niedergang, je nachdem, wie die Kreisbewegung ausgelöst wird.“
Diese Grafiken ermöglichen Ihnen, die berühmten und gefürchteten Teufelskreise schnell als solche zu identifizieren. Ein Beispiel dafür: Mitarbeiter eines Fernsehsenders, die nicht gut genug bezahlt werden, verlassen das Unternehmen. Darunter sind auch Stars. Durch ihren Weggang verliert der Sender Zuschauer. Das wirkt sich wiederum auf die Werbekunden aus, und so hat der Sender noch weniger Geld, um gute Leute ordentlich zu bezahlen. Ein solcher Teufelskreis muss unterbrochen werden. Doch dazu muss man ihn erst erkennen. Mit systemischem Denken funktioniert das sehr gut. Gerade bei komplexen Zusammenhängen wie im Beispiel des Fernsehsenders oder der Investmentbank, kommt es darauf an, das Problem als Ganzes wahrzunehmen und nicht Schnellschüsse abzufeuern, die letztlich die Situation nur verschlimmern.
„Im systemischen Denken werden Sie aktiv ermutigt, uneindeutige Variablen zu berücksichtigen, da sie häufig entscheidende Elemente unserer Geschäftstätigkeit untermauern.“
Systemisches Denken kann aber auch ganz anders eingesetzt werden, beispielsweise um die Kreativität in einer Abteilung zu erhöhen oder um Prognosen für die Zukunft zu treffen. Die Einsatzmöglichkeiten dieses Managementinstruments sind vielfältig.
Zwei Arten von Feedbackschleifen
Wenn Sie in Ihrem Diagramm einen geschlossenen Kreislauf haben, sprechen wir von einer Feedbackschleife. Diese Schleifen kommen in jedem Wirkungsdiagramm vor – sollte bei Ihnen keine zu erkennen sein, haben Sie einen wesentlichen Punkt vergessen. Feedbackschleifen erleben wir ständig in unserem Alltag, oft ohne uns ihrer bewusst zu sein. Beispiel Kaffee: Sie schenken sich eine Tasse ein, und Ihre Augen melden dem Gehirn die Füllhöhe. Ist die Tasse voll, bekommen Sie von dort die Nachricht, mit dem Füllen aufzuhören. Mit geschlossenen Augen hätten Sie keine Feedbackschleife, und die Tasse würde sehr wahrscheinlich überlaufen.
„Management bedeutet, Maßnahmen zu ergreifen, Entscheidungen zu fällen und Klugheit zu beweisen.“
Das Besondere ist, dass es nur zwei Varianten von Feedbackschleifen gibt: eskalierende und stabilisierende. Nimmt beispielsweise der Kostendruck in jeder weiteren Runde zu, spricht man von einem positiven Feedback, und die zugehörige Schleife ist eine eskalierende Feedbackschleife. Negative oder stabilisierende Feedbackschleifen sollen dagegen ein bestimmtes Ziel erreichen, beispielsweise eine gut gefüllte Kaffeetasse. Sie zu unterscheiden ist sehr einfach: Sie müssen nur die Minuszeichen in Ihrem geschlossenen Kreislauf zählen. Bei einer geraden Zahl von Minuszeichen (auch die Null zählt hier als gerade Zahl) haben Sie eine eskalierende Feedbackschleife. Ist die Zahl der Minuszeichen ungerade, ist Ihre Feedbackschleife stabilisierend.
Teufelskreise und Zeitverzögerungen
Vielleicht haben Sie es schon erraten: Die eskalierenden Feedbackschleifen sind oft Teufelskreise. Allerdings können sie auch Tugendkreise sein. Je nachdem führen sie entweder zu einem exponentiellen Niedergang oder zu einem ebensolchen Wachstum. Denken Sie an die zu füllende Kaffeetasse: Sie wird nicht leerer, solange Kaffee einfließt. Möglicherweise läuft sie über, aber leer wird sie nicht.
„Der Prüfstein ist die Plausibilität, also die Möglichkeit, dass eine Alternative Realität wird, nicht etwa ihre Wahrscheinlichkeit oder unsere Hoffnung, dass genau dies geschehen wird.“
Bei stabilisierenden Feedbackschleifen kann das Problem in der Zeitverzögerung stecken. Denn dadurch wird es schwierig, den angepeilten Soll-Zustand zu erreichen. Eine Zeitverzögerung führt zu extremen Ausschlägen, bis sich der Ist-Zustand langsam dem Soll annähert. Das kennen Sie z. B. aus der Dusche in einem Hotelzimmer: Ist sie zu heiß, stellen Sie sie auf kalt, doch vermutlich ist es jetzt schnell zu kalt, darum drehen Sie wieder in die andere Richtung, doch das ist zu warm. Irgendwann haben Sie die richtige Temperatur gefunden. Um den Soll-Zustand zu erreichen, können Sie also an unterschiedlichen Hebeln bzw. in unterschiedliche Richtungen drehen. Die Wirkung lässt sich jedoch nur sehr schwer einschätzen. Denken Sie an den Hebel Werbung: Er erlaubt Ihnen keine präzise Prognose darüber, wie sich Ihr Absatz nach der Schaltung einer Werbeanzeige entwickeln wird.
So zeichnen Sie gute Diagramme
Ein wichtiger Punkt ist die Frage, was alles in Ihr Diagramm hineingehört. Sie wollen die Realität abbilden und das Problem ganzheitlich betrachten. Dieser Begriff ist natürlich dehnbar. Wenn Sie eine Gruppe von Menschen befragen, wie die Realität einer Situation aussieht, werden Sie vermutlich mehrere unterschiedliche Meinungen hören. Darum ist die Frage immer: Welche Realität wird abgebildet? Abgesehen davon kann die Darstellung der Realität sehr unübersichtlich werden. Wichtig ist, dass Sie nur die relevanten und nützlichen Aspekte in Ihre Überlegungen mit einbeziehen. Auf keinen Fall sollten Sie Ihr Diagramm überfrachten. Hier gilt: Übung macht den Meister.
„In der Praxis können Sie tatsächlich nur eines tun, nämlich die Hebel in Richtung der Soll-Einstellungen ziehen, von denen Sie überzeugt sind, die Augen schließen und hoffen, dass sich die richtigen Resultate einstellen werden.“
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die Frage des richtigen Einstiegs. Suchen Sie z. B. nach den wichtigsten Elementen in Bezug auf Ihr Problem. Da Sie ja einer Wirkungskette folgen und in dieser Kette alle Elemente enthalten sein werden, laufen Sie nicht Gefahr, etwas zu vergessen. Denken Sie bereits beim Zeichnen darüber nach, wovon ein neu hinzugefügtes Element beeinflusst wird und was es selbst beeinflusst. Außerdem gewinnt Ihr Diagramm an Qualität, wenn Sie die folgenden Ratschläge beachten:
- Benutzen Sie bei der Beschreibung der einzelnen Elemente Substantive statt Verben; so wird das Diagramm klarer strukturiert.
- Die Wörter „Anstieg“ und „Rückgang“ sollten Sie komplett außen vor lassen, schließlich drücken Sie beides durch Minus- oder Pluszeichen aus.
- Themen, die beispielsweise in der Buchhaltung unter den Tisch fallen, weil sie nicht bezifferbar sind, können und sollen in Ihrem Diagramm durchaus vorkommen: Sie sollen die Realität abbilden.
- Bringen Sie bei jedem gezeichneten Pfeil sofort ein Plus- oder ein Minuszeichen an, wenn Sie später nicht im Chaos enden wollen.
- Ihre Diagramme sind keine Kunstwerke und Sie sind kein Künstler. Falls man Sie kritisiert, sollten Sie darüber nachdenken, ob Sie den angesprochenen Punkt wirklich richtig wiedergegeben haben.
- Da sich die Welt ständig weiterentwickelt, ist kein Wirkungsdiagramm für die Ewigkeit gedacht. Sie müssen Ihre Diagramme ggf. ständig weiterentwickeln.
Kritik kontern
Ihre Diagramme werden nicht überall und sofort auf Gegenliebe stoßen. Wahrscheinlicher ist, dass sie kritisiert werden. Diejenigen, die sich nicht mit ihnen anfreunden können, halten sie schlichtweg für banal, weil sie keine neuen Erkenntnisse bringen. Man wirft ihnen vor, dass die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen auch ohne Wirkungsdiagramm hätten erkannt werden können. Tatsächlich ist es so, dass Wirkungsdiagramme gar nichts Neues darstellen wollen, denn sie sollen die Realität abbilden. Wenn man aber die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen auch ohne Wirkungsdiagramm erkennen kann, bleibt eine Frage bestehen: Warum werden so viele dumme und falsche Entscheidungen getroffen?