Schwarmintelligenz im Unternehmen

Buch Schwarmintelligenz im Unternehmen

Wie sich vernetzte Intelligenz für Innovation und permanente Erneuerung nutzen lässt

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Rezension

Der Mensch ist kein Fisch, kein Vogel und auch keine Ar­beits­bi­ene. Dennoch schwärmen heutzutage in den Unternehmen viele von einer Schwarmintel­li­genz, wie es sie etwa in Bienenstöcken gibt. Per­son­al­ber­ater Jochen May sieht in der Schwarmintel­li­genz das Potenzial, Hand­lungsspielräume zu öffnen und Selb­stor­gan­i­sa­tion­sprozesse zu ermöglichen. In seinem Buch schildert er praxisnah die einzelnen Instrumente, die Führungskräfte benötigen, um die Intelligenz des Schwarms auch bei ihren Mi­tar­beit­ern zu wecken. Zugleich betont der Autor, dass Schwärme trotz ihrer autonomen Funk­tion­sweise Führung brauchen – wenn auch eher zurückhaltender Natur. BooksInShort empfiehlt das Buch allen Führungskräften, die keine Angst vor der Intelligenz ihrer Mitarbeiter haben.

Take-aways

  • Im Tierreich sind Schwärme Zweck­ge­mein­schaften, die der Erreichung eines gemeinsamen Ziels dienen.
  • Unter Schwarmintel­li­genz ist die Vernetzung ver­schiedenar­tiger Kompetenzen im Unternehmen zu verstehen.
  • Die Aktivierung dieses „Wissens der vielen“ führt zu in­tel­li­gen­terem Arbeiten, zu In­no­va­tio­nen und zu Produktivitätssteigerun­gen.
  • Die Effekte der Schwarmintel­li­genz gehen über die Summe der Effekte hinaus, die jedes einzelne Schwar­m­mit­glied erzielt.
  • Während die Natur Schwarmintel­li­genz fördert, steht unsere Ar­beit­skul­tur ihr oft im Weg.
  • Um die Vorteile der Schwarmintel­li­genz zu nutzen, setzen Sie neue Führungsin­stru­mente in Ihrem Unternehmen ein, z. B. Ser­vicelevel-Vere­in­barun­gen.
  • Auch Schwärme brauchen Führung, etwa zur Etablierung der Schwarmkul­tur.
  • Geben Sie Ihren Mi­tar­beit­ern die Ergeb­nisver­ant­wor­tung – welchen Weg sie wählen, bestimmen sie selbst.
  • Führen Sie Ihre Mitarbeiter im Dialog und stellen Sie vor allem Fragen.
  • Schwarmintel­li­genz hat Vorteile ins­beson­dere bei Un­sicher­heit und In­for­ma­tion­s­man­gel.
 

Zusammenfassung

Genialität, der Natur abgeschaut

Auf sich allein gestellt, sind Ameisen nicht intelligent. Im Team aber sind sie zu er­staunlichen Leistungen fähig. So findet eine Ameise sogar dann den kürzesten Weg zu einem Ziel, wenn ihre gewohnte Strecke blockiert ist. Das gelingt ihr nicht durch eine aufwändige Suche, sondern indem sie sich an den Duftspuren ihrer Artgenossen orientiert. Die Ameise geht also effizient auf Futtersuche, ohne je von Logistik gehört zu haben. Fischschwärme schwimmen bei Angriffen von Raubfischen automatisch im Kreis, um ihren Feinden wenig Angriffsfläche zu bieten. Selbst blitzschnelle gemeinsame Rich­tungswech­sel gelingen dem Fis­chkollek­tiv – aufgrund einer Kombination von in­di­vidu­ellem Fluchtin­stinkt und Ori­en­tierung am Nach­barfisch. Auch die Schwärme von Zugvögeln sind intelligent formiert: Die V-Form sorgt für Wind­schat­ten und ermöglicht en­ergies­paren­des Langstreck­en­fliegen. Solche Beispiele aus der Natur können Sie nutzen – indem Sie das Konzept der Schwarmintel­li­genz in Ihrem Unternehmen anwenden.

„Schwarmintel­li­genz macht jede Or­gan­i­sa­tion robust.“

Schwarmintel­li­genz ist die Vernetzung un­ter­schiedlicher Kompetenzen der Mitarbeiter. Auch sie bilden ide­al­er­weise Zweck­ge­mein­schaften, die ein gemeinsames Ziel anstreben. Gelingt die Aktivierung der Schwarmintel­li­genz, denken mehr Köpfe mit und die Probleme werden aus mehr Blick­winkeln betrachtet. Die Vorteile sind vielfältig: Mit Schwarmintel­li­genz lassen sich Bürokratie, Ver­wal­tungs­men­talität, Konflikte und Rei­bungsver­luste verringern. Zudem entsteht ein innerer In­no­va­tions­druck. Wenn alle Köpfe im Unternehmen sich Gedanken machen, steigt die Chance, dass durch glückliche Zufälle Produkte mit Alle­in­stel­lungsmerk­mal entstehen.

„Schwarmintel­li­genz versteht sich als Vernetzung un­ter­schiedlicher Kompetenzen der Schwar­m­mit­glieder.“

Neben Schwärmen gibt es in der Natur natürlich auch Herden: Sie werden von Leittieren gesteuert und sind, anders als Schwärme, auf Gedeih und Verderb von deren Stärke abhängig. Auch dieses Modell kann einem Unternehmen Vorteile bringen. Auf diese Führungsstrate­gie sollten Sie setzen, wenn Einzelne alle nötigen In­for­ma­tio­nen besitzen, um eine sachgerechte Entschei­dung treffen zu können. Es ist z. B. sinnvoller, eine kom­plizierte Berechnung von einem Math­e­matiker als von einem Schwarm von Kollegen durchführen zu lassen. Ihre Vorteile spielt die Schwarmintel­li­genz hingegen aus, wenn Un­sicher­heit herrscht oder wenn In­for­ma­tio­nen unvollständig sind, wenn also keine aus­ge­feil­ten Regeln vorliegen. Hier können Sie durch das „Wissen der vielen“ die Komplexität schrit­tweise so weit verringern, bis eine Entschei­dung möglich wird.

Warum ist Schwarmintel­li­genz überhaupt wünschenswert?

Unternehmen starten oft als hochflex­i­ble Einheiten – und entwickeln sich zu erstarrten Or­gan­i­sa­tio­nen. Während sich die Funk­tion­srou­ti­nen im Start-up evolutionär aus Mark­tan­forderun­gen her­ausen­twick­eln, gewinnen sie mit der Zeit ein Eigenleben und sind von ihrem ursprünglichen Kontext und dem gewünschten Ergebnis abgelöst. Führungskräfte in saturierten Unternehmen erwarten von ihren Un­tergebe­nen häufig keine pfiffigen Ideen, sondern dass sie etablierte Hand­lungsrou­ti­nen ausführen. Im schlimmsten Fall betrachten sie Änderungsvorschläge als Normverstoß. Die Wet­tbe­werb­spo­si­tion solcher Unternehmen wird somit immer schwächer. So trachteten Haar­net­zher­steller einst lediglich danach, Netze immer feiner zu spinnen. Einen neuen Ansatz zu verfolgen, kam ihnen nicht in den Sinn. Die Folge: Haarspray fegte die Etablierten vom Markt. Ebenso erging es einem Hersteller mech­a­nis­cher Kassen, der den Trend zu elek­tro­n­is­chen Kassen, die sich ans Waren­wirtschaftssys­tem koppeln ließen, ignorierte.

„Mit ausgeklügelten Techniken zur Selb­st­s­teuerung findet der Schwarm vom kreativen Dissens zum ein­vernehm­lichen Spitzen­ergeb­nis.“

Die Vorteile der Schwarmintel­li­genz lassen sich als Delta-plus-Ef­fekte bezeichnen. Das sind Effekte, die über die Summe der Effekte hinausgehen, die jedes Schwar­m­mit­glied einzeln erzielt. Anders gesagt: Nicht die Ameise ist schlau, sondern die Ameisenkolonie. Delta-plus-Ef­fekte werden von den Einzelnen nicht bewusst geplant oder angestrebt. Allerdings sind Menschen keine Ameisen. Während Tiere ihren Instinkten folgen, handeln Menschen nach ihren Mo­ti­va­tio­nen. Die engmaschige Kontrolle, die in der Tierwelt fürs Funk­tion­ieren des Einzelnen im Schwarm sorgt, ist für Menschen nicht geeignet und sogar kon­trapro­duk­tiv.

Auch Schwärme brauchen Führung

Das Konzept Schwarmintel­li­genz muss also den Menschen angepasst werden. Das ist die Aufgabe der Führungskräfte. Diese werden nämlich durch den in­tel­li­gen­ten Schwarm nicht überflüssig – was oft eine ihrer Befürchtungen ist. Sie or­gan­isieren den Schwarm. Sie definieren seine Größe (je nach angestrebtem Ziel) und sie beachten die Gle­ich­stel­lung der Schwar­m­mit­glieder. Für Sie als Führungskraft heißt das: Sie halten sich nicht für ein Schwar­m­mit­glied – denn Sie sind keins. Sie schaffen einen überge­ord­neten Ver­hal­tenskodex, ohne den Frei­heits­grad der Schwar­m­mit­glieder zu sehr einzuengen. Es kommt darauf an, ver­schiedenar­tige Kompetenzen in der Gruppe zu kombinieren. Die passende Führung­stech­nik ist der Dialog. Stellen Sie als Führungskraft Ihren Mi­tar­beit­ern vor allem Fragen, die sie dazu zwingen, über Lösungen nachzu­denken.

„Ergeb­nisver­ant­wor­tung beinhaltet die Bere­itschaft, unabhängig von bestehenden Regeln alle für ein perfektes Kun­den-Leis­tungspaket er­forder­lichen Handlungen vorzunehmen.“

Beachten Sie, dass die Ankündigung jedes neuen Führungskonzepts Ihre Mitarbeiter verun­sich­ern wird. Das ist bei der Einführung von Schwarmintel­li­genz nicht anders. Nutzen Sie einen bestimmten Geschäftsvorfall, beispiel­sweise eine Kun­den­reak­tion, um die Mitarbeiter in das neue Konzept einzubeziehen. Nach einem solchen Ini­tialereig­nis kann eine Mi­tar­beit­er­be­fra­gung die Kollegen zum Mitdenken anregen. Meinungsführer laden Sie zur Diskussion ein – gerade die kritischen. In einem „Ba­sis-Er­leb­nis-Pro­gramm“ nehmen Führungskräfte zum Per­spek­tivwech­sel einige Tage die Arbeitsplätze ihrer Un­tergebe­nen ein; sie werden so vorübergehend zu Schwar­m­mit­gliedern und lernen deren Probleme kennen.

„Werden alle internen Kunden bestens bedient, werden auch alle externen Kunden bestens bedient.“

Verbreitet ist das Thema Schwarmintel­li­genz in Unternehmen noch nicht. Das liegt zum einen an der Trägheit, die Wirtschaft­sor­gan­i­sa­tio­nen auszeichnet. Zum anderen fehlte es bislang an geeigneten Führungsin­stru­menten, mit denen sich die Potenziale der Schwarmintel­li­genz heben lassen. Diese Instrumente sind nun vorhanden und harren der Umsetzung.

Erstes Instrument: Ser­vicelevel-Vere­in­barun­gen

Ein wesentliches Element der Umsetzung sind so genannte Ser­vicelevel-Vere­in­barun­gen für die Mitarbeiter. Es handelt sich hier um kenn­zahlengestützte, umfassende Leis­tungskat­a­loge, die in­ner­be­trieblich und mit den Kunden abgestimmt sind. Sie sagen den Mi­tar­beit­ern glasklar, was von ihnen erwartet wird. Bei der Aufstellung berücksichtigen Sie sowohl die Wünsche des Managements als auch die Erwartungen der Mitarbeiter. Durch einen Rück­kop­plung­sprozess vermeiden Sie, dass Mitarbeiter sich gegen eine Zielvorgabe auflehnen. Nach einem Erstentwurf, der sich z. B. am Status quo orientiert, werden die geplanten Leistungen mit den Kundenwünschen abgeglichen. Daraus resultiert die Ser­vicelevel-Vere­in­barung. Deren Kennzahlen müssen verständlich und realistisch sein. Den Erfüllungssta­tus sollten die Mitarbeiter jederzeit einsehen können.

Zweites Instrument: Kun­den-Leis­tungspakete

Ihr Unternehmen sollte danach trachten, die Erwartungen der Kunden zu übertreffen. Mit einem Kun­den-Liefer­an­ten-Di­a­gramm leiten Sie den Mentalitätswandel ein: Alle internen Leis­tungsempfänger werden als Kunden wahrgenom­men. Kunden sitzen demnach nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Betriebs. Die Bedürfnisse der internen Kunden spiegeln diejenigen der äußeren: Wenn Sie die Erwartungen der internen Kunden übertreffen, so gelingt es auch, die externen Kunden des Un­ternehmens positiv zu überraschen. Für die Einhaltung des jeweils vere­in­barten Kun­den-Leis­tungspakets tragen die Mitarbeiter die Ergeb­nisver­ant­wor­tung. Damit dies nicht ausufert – und übermäßige Kosten verursacht –, geben Ef­fizienzziele eine Grenze für die Leistungen vor.

Drittes Instrument: Vier-Stufen-Kom­pe­tenz-Mod­ell

Wenn Sie Ihren Mi­tar­beit­ern mehr Spielraum geben, ist nicht sicher, dass sie diesen auch im Sinne des Un­ternehmens nutzen. Strenge Kontrolle fällt als Mittel der Fehlerprävention weg, doch die Mitarbeiter können überprüfen, ob ihr Handeln mit bestimmten Regulativen kompatibel ist. Geeignete Regulative sind vor allem die Ser­vicelevel-Vere­in­barun­gen. Auch bei Schwarmintel­li­genz sind also Regeln und Prozesse einzuhalten. Mit dem Vier-Stufen-Kom­pe­tenz-Mod­ell gestatten Sie Ihren Mi­tar­beit­ern eine Abweichung von diesen Routinen, doch sie müssen die Kompetenz haben, ihr Handeln auf Übere­in­stim­mung mit den Regulativen zu überprüfen. Andernfalls sollten Sie selbstständiges Handeln nicht zulassen. Die vier aufeinander aufbauenden Kom­pe­ten­zstufen sind:

  1. Regeln anwenden,
  2. Leistungsstörungen erkennen,
  3. Lösungen vorschlagen,
  4. Entschei­dun­gen eigenständig treffen.

Raum für die Selb­stor­gan­i­sa­tion

Ihre Mitarbeiter sollen sich betrieblich gewünschten Ergebnissen verpflichtet fühlen, d. h., sie sollen wie En­tre­pre­neure denken. Dazu gehört, dass sie einen bestimmten Hand­lungsspiel­raum haben. Orientieren Sie sich am Subsidiaritätsprinzip: Entschei­dun­gen werden auf der niedrigsten möglichen Entschei­dungsebene getroffen. Ein Beispiel findet sich bei der Aus­liefer­ung des Be­ton­her­stellers Cemex. Als es zu Ter­min­prob­le­men kam, überließ das Management die Disposition den Fahrern selbst. Anstelle von Einsatzplänen haben sie nun lediglich die Vorgabe, die Kunden pünktlich zu beliefern. Die Fahrer kümmern sich selbst darum und sprechen sich bei Ausfällen un­tere­inan­der ab – und es klappt besser als zuvor. Der entstehende Teamgeist sorgt dafür, dass un­ko­op­er­a­tives Verhalten Einzelner im Schwarm nicht geduldet wird oder gar nicht erst entsteht.

„Nichts ist für Ihre Mitarbeiter frus­tri­eren­der, als zu sehen, dass die im Schweiße ihres Angesichts er­ar­beit­eten Vorschläge ohne zwingenden Grund im Papierkorb ver­schwinden.“

Streit im Schwarm ist manchmal durchaus konstruktiv, während allgegenwärtige Harmonie ebenso unproduktiv sein kann wie Mobbing oder Selb­stzer­fleis­chung. Um die Unruhe im kreativen Bereich zu halten, stellen Sie sicher, dass jedes Schwar­m­mit­glied Zugang zu allen relevanten In­for­ma­tio­nen bekommt. In­for­ma­tio­nen müssen dezentral, transparent und autoritätsfrei fließen. Die Ver­hal­tens­ab­stim­mung im Schwarm muss ebenfalls autoritätsfrei ablaufen. Ein Einzelner darf nicht dominieren. Geeignete Verfahren zur Entschei­dungs­find­ung sind neben der Durch­schnitts­bil­dung und der Mehrheitswahl der iterative Eini­gung­sprozess und die holistische In­ter­essen­abwägung: Beim iterativen Eini­gung­sprozess werden An­forderun­gen und Präferenzen durch Diskussion und Per­spek­tivwech­sel stufenweise so lange abgewogen, bis sich im Schwarm eine auss­chlaggebende Überzeu­gungsquote gebildet hat. Bei holis­tis­cher Abwägung wird durch die Suche nach überge­ord­neten Interessen vermieden, dass konkur­ri­erende Interessen zu Machtkämpfen ausarten. Das stärkt den Teamzusam­men­halt.

In­no­va­tion­s­men­talität an jedem Werktag

In­no­va­tions­druck lässt sich in vielen Firmen nur noch von außen und mit viel Kraftaufwand erzeugen. Auch wenn strate­gis­chen In­no­va­tio­nen durch Führungskräfte – man denke an Henry Ford oder Steve Jobs – große Verdienste zukommen: Statt mit einer unglaublichen Anstrengung gegen 1000 Widerstände für In­no­va­tions­druck zu sorgen, wäre es geschickter, in Ihrer Firma eine in­no­va­tions­fre­undliche Atmosphäre zu erzeugen. Ändern sich Kun­de­nan­forderun­gen allmählich, können sie über die nächsten Ser­vicelevel-Vere­in­barun­gen in die Schwar­mar­beit einfließen. Gibt es jedoch eine Krise, ist ein Es­kala­tion­s­man­age­ment vonnöten. Mit Best-Prac­tice-Work­shops werden dann innovative Ideen am schnellsten umgesetzt. Syn­chro­ni­sa­tion­steams beseitigen Ab­stim­mung­sprob­leme über die Schwar­m­gren­zen hinweg.

Über den Autor

Jochen May war Per­son­alleiter bei Adidas und ist seit 2003 selbstständiger Un­ternehmens­ber­ater in Sachen Per­sonal­man­age­ment.