Genialität, der Natur abgeschaut
Auf sich allein gestellt, sind Ameisen nicht intelligent. Im Team aber sind sie zu erstaunlichen Leistungen fähig. So findet eine Ameise sogar dann den kürzesten Weg zu einem Ziel, wenn ihre gewohnte Strecke blockiert ist. Das gelingt ihr nicht durch eine aufwändige Suche, sondern indem sie sich an den Duftspuren ihrer Artgenossen orientiert. Die Ameise geht also effizient auf Futtersuche, ohne je von Logistik gehört zu haben. Fischschwärme schwimmen bei Angriffen von Raubfischen automatisch im Kreis, um ihren Feinden wenig Angriffsfläche zu bieten. Selbst blitzschnelle gemeinsame Richtungswechsel gelingen dem Fischkollektiv – aufgrund einer Kombination von individuellem Fluchtinstinkt und Orientierung am Nachbarfisch. Auch die Schwärme von Zugvögeln sind intelligent formiert: Die V-Form sorgt für Windschatten und ermöglicht energiesparendes Langstreckenfliegen. Solche Beispiele aus der Natur können Sie nutzen – indem Sie das Konzept der Schwarmintelligenz in Ihrem Unternehmen anwenden.
„Schwarmintelligenz macht jede Organisation robust.“
Schwarmintelligenz ist die Vernetzung unterschiedlicher Kompetenzen der Mitarbeiter. Auch sie bilden idealerweise Zweckgemeinschaften, die ein gemeinsames Ziel anstreben. Gelingt die Aktivierung der Schwarmintelligenz, denken mehr Köpfe mit und die Probleme werden aus mehr Blickwinkeln betrachtet. Die Vorteile sind vielfältig: Mit Schwarmintelligenz lassen sich Bürokratie, Verwaltungsmentalität, Konflikte und Reibungsverluste verringern. Zudem entsteht ein innerer Innovationsdruck. Wenn alle Köpfe im Unternehmen sich Gedanken machen, steigt die Chance, dass durch glückliche Zufälle Produkte mit Alleinstellungsmerkmal entstehen.
„Schwarmintelligenz versteht sich als Vernetzung unterschiedlicher Kompetenzen der Schwarmmitglieder.“
Neben Schwärmen gibt es in der Natur natürlich auch Herden: Sie werden von Leittieren gesteuert und sind, anders als Schwärme, auf Gedeih und Verderb von deren Stärke abhängig. Auch dieses Modell kann einem Unternehmen Vorteile bringen. Auf diese Führungsstrategie sollten Sie setzen, wenn Einzelne alle nötigen Informationen besitzen, um eine sachgerechte Entscheidung treffen zu können. Es ist z. B. sinnvoller, eine komplizierte Berechnung von einem Mathematiker als von einem Schwarm von Kollegen durchführen zu lassen. Ihre Vorteile spielt die Schwarmintelligenz hingegen aus, wenn Unsicherheit herrscht oder wenn Informationen unvollständig sind, wenn also keine ausgefeilten Regeln vorliegen. Hier können Sie durch das „Wissen der vielen“ die Komplexität schrittweise so weit verringern, bis eine Entscheidung möglich wird.
Warum ist Schwarmintelligenz überhaupt wünschenswert?
Unternehmen starten oft als hochflexible Einheiten – und entwickeln sich zu erstarrten Organisationen. Während sich die Funktionsroutinen im Start-up evolutionär aus Marktanforderungen herausentwickeln, gewinnen sie mit der Zeit ein Eigenleben und sind von ihrem ursprünglichen Kontext und dem gewünschten Ergebnis abgelöst. Führungskräfte in saturierten Unternehmen erwarten von ihren Untergebenen häufig keine pfiffigen Ideen, sondern dass sie etablierte Handlungsroutinen ausführen. Im schlimmsten Fall betrachten sie Änderungsvorschläge als Normverstoß. Die Wettbewerbsposition solcher Unternehmen wird somit immer schwächer. So trachteten Haarnetzhersteller einst lediglich danach, Netze immer feiner zu spinnen. Einen neuen Ansatz zu verfolgen, kam ihnen nicht in den Sinn. Die Folge: Haarspray fegte die Etablierten vom Markt. Ebenso erging es einem Hersteller mechanischer Kassen, der den Trend zu elektronischen Kassen, die sich ans Warenwirtschaftssystem koppeln ließen, ignorierte.
„Mit ausgeklügelten Techniken zur Selbststeuerung findet der Schwarm vom kreativen Dissens zum einvernehmlichen Spitzenergebnis.“
Die Vorteile der Schwarmintelligenz lassen sich als Delta-plus-Effekte bezeichnen. Das sind Effekte, die über die Summe der Effekte hinausgehen, die jedes Schwarmmitglied einzeln erzielt. Anders gesagt: Nicht die Ameise ist schlau, sondern die Ameisenkolonie. Delta-plus-Effekte werden von den Einzelnen nicht bewusst geplant oder angestrebt. Allerdings sind Menschen keine Ameisen. Während Tiere ihren Instinkten folgen, handeln Menschen nach ihren Motivationen. Die engmaschige Kontrolle, die in der Tierwelt fürs Funktionieren des Einzelnen im Schwarm sorgt, ist für Menschen nicht geeignet und sogar kontraproduktiv.
Auch Schwärme brauchen Führung
Das Konzept Schwarmintelligenz muss also den Menschen angepasst werden. Das ist die Aufgabe der Führungskräfte. Diese werden nämlich durch den intelligenten Schwarm nicht überflüssig – was oft eine ihrer Befürchtungen ist. Sie organisieren den Schwarm. Sie definieren seine Größe (je nach angestrebtem Ziel) und sie beachten die Gleichstellung der Schwarmmitglieder. Für Sie als Führungskraft heißt das: Sie halten sich nicht für ein Schwarmmitglied – denn Sie sind keins. Sie schaffen einen übergeordneten Verhaltenskodex, ohne den Freiheitsgrad der Schwarmmitglieder zu sehr einzuengen. Es kommt darauf an, verschiedenartige Kompetenzen in der Gruppe zu kombinieren. Die passende Führungstechnik ist der Dialog. Stellen Sie als Führungskraft Ihren Mitarbeitern vor allem Fragen, die sie dazu zwingen, über Lösungen nachzudenken.
„Ergebnisverantwortung beinhaltet die Bereitschaft, unabhängig von bestehenden Regeln alle für ein perfektes Kunden-Leistungspaket erforderlichen Handlungen vorzunehmen.“
Beachten Sie, dass die Ankündigung jedes neuen Führungskonzepts Ihre Mitarbeiter verunsichern wird. Das ist bei der Einführung von Schwarmintelligenz nicht anders. Nutzen Sie einen bestimmten Geschäftsvorfall, beispielsweise eine Kundenreaktion, um die Mitarbeiter in das neue Konzept einzubeziehen. Nach einem solchen Initialereignis kann eine Mitarbeiterbefragung die Kollegen zum Mitdenken anregen. Meinungsführer laden Sie zur Diskussion ein – gerade die kritischen. In einem „Basis-Erlebnis-Programm“ nehmen Führungskräfte zum Perspektivwechsel einige Tage die Arbeitsplätze ihrer Untergebenen ein; sie werden so vorübergehend zu Schwarmmitgliedern und lernen deren Probleme kennen.
„Werden alle internen Kunden bestens bedient, werden auch alle externen Kunden bestens bedient.“
Verbreitet ist das Thema Schwarmintelligenz in Unternehmen noch nicht. Das liegt zum einen an der Trägheit, die Wirtschaftsorganisationen auszeichnet. Zum anderen fehlte es bislang an geeigneten Führungsinstrumenten, mit denen sich die Potenziale der Schwarmintelligenz heben lassen. Diese Instrumente sind nun vorhanden und harren der Umsetzung.
Erstes Instrument: Servicelevel-Vereinbarungen
Ein wesentliches Element der Umsetzung sind so genannte Servicelevel-Vereinbarungen für die Mitarbeiter. Es handelt sich hier um kennzahlengestützte, umfassende Leistungskataloge, die innerbetrieblich und mit den Kunden abgestimmt sind. Sie sagen den Mitarbeitern glasklar, was von ihnen erwartet wird. Bei der Aufstellung berücksichtigen Sie sowohl die Wünsche des Managements als auch die Erwartungen der Mitarbeiter. Durch einen Rückkopplungsprozess vermeiden Sie, dass Mitarbeiter sich gegen eine Zielvorgabe auflehnen. Nach einem Erstentwurf, der sich z. B. am Status quo orientiert, werden die geplanten Leistungen mit den Kundenwünschen abgeglichen. Daraus resultiert die Servicelevel-Vereinbarung. Deren Kennzahlen müssen verständlich und realistisch sein. Den Erfüllungsstatus sollten die Mitarbeiter jederzeit einsehen können.
Zweites Instrument: Kunden-Leistungspakete
Ihr Unternehmen sollte danach trachten, die Erwartungen der Kunden zu übertreffen. Mit einem Kunden-Lieferanten-Diagramm leiten Sie den Mentalitätswandel ein: Alle internen Leistungsempfänger werden als Kunden wahrgenommen. Kunden sitzen demnach nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des Betriebs. Die Bedürfnisse der internen Kunden spiegeln diejenigen der äußeren: Wenn Sie die Erwartungen der internen Kunden übertreffen, so gelingt es auch, die externen Kunden des Unternehmens positiv zu überraschen. Für die Einhaltung des jeweils vereinbarten Kunden-Leistungspakets tragen die Mitarbeiter die Ergebnisverantwortung. Damit dies nicht ausufert – und übermäßige Kosten verursacht –, geben Effizienzziele eine Grenze für die Leistungen vor.
Drittes Instrument: Vier-Stufen-Kompetenz-Modell
Wenn Sie Ihren Mitarbeitern mehr Spielraum geben, ist nicht sicher, dass sie diesen auch im Sinne des Unternehmens nutzen. Strenge Kontrolle fällt als Mittel der Fehlerprävention weg, doch die Mitarbeiter können überprüfen, ob ihr Handeln mit bestimmten Regulativen kompatibel ist. Geeignete Regulative sind vor allem die Servicelevel-Vereinbarungen. Auch bei Schwarmintelligenz sind also Regeln und Prozesse einzuhalten. Mit dem Vier-Stufen-Kompetenz-Modell gestatten Sie Ihren Mitarbeitern eine Abweichung von diesen Routinen, doch sie müssen die Kompetenz haben, ihr Handeln auf Übereinstimmung mit den Regulativen zu überprüfen. Andernfalls sollten Sie selbstständiges Handeln nicht zulassen. Die vier aufeinander aufbauenden Kompetenzstufen sind:
- Regeln anwenden,
- Leistungsstörungen erkennen,
- Lösungen vorschlagen,
- Entscheidungen eigenständig treffen.
Raum für die Selbstorganisation
Ihre Mitarbeiter sollen sich betrieblich gewünschten Ergebnissen verpflichtet fühlen, d. h., sie sollen wie Entrepreneure denken. Dazu gehört, dass sie einen bestimmten Handlungsspielraum haben. Orientieren Sie sich am Subsidiaritätsprinzip: Entscheidungen werden auf der niedrigsten möglichen Entscheidungsebene getroffen. Ein Beispiel findet sich bei der Auslieferung des Betonherstellers Cemex. Als es zu Terminproblemen kam, überließ das Management die Disposition den Fahrern selbst. Anstelle von Einsatzplänen haben sie nun lediglich die Vorgabe, die Kunden pünktlich zu beliefern. Die Fahrer kümmern sich selbst darum und sprechen sich bei Ausfällen untereinander ab – und es klappt besser als zuvor. Der entstehende Teamgeist sorgt dafür, dass unkooperatives Verhalten Einzelner im Schwarm nicht geduldet wird oder gar nicht erst entsteht.
„Nichts ist für Ihre Mitarbeiter frustrierender, als zu sehen, dass die im Schweiße ihres Angesichts erarbeiteten Vorschläge ohne zwingenden Grund im Papierkorb verschwinden.“
Streit im Schwarm ist manchmal durchaus konstruktiv, während allgegenwärtige Harmonie ebenso unproduktiv sein kann wie Mobbing oder Selbstzerfleischung. Um die Unruhe im kreativen Bereich zu halten, stellen Sie sicher, dass jedes Schwarmmitglied Zugang zu allen relevanten Informationen bekommt. Informationen müssen dezentral, transparent und autoritätsfrei fließen. Die Verhaltensabstimmung im Schwarm muss ebenfalls autoritätsfrei ablaufen. Ein Einzelner darf nicht dominieren. Geeignete Verfahren zur Entscheidungsfindung sind neben der Durchschnittsbildung und der Mehrheitswahl der iterative Einigungsprozess und die holistische Interessenabwägung: Beim iterativen Einigungsprozess werden Anforderungen und Präferenzen durch Diskussion und Perspektivwechsel stufenweise so lange abgewogen, bis sich im Schwarm eine ausschlaggebende Überzeugungsquote gebildet hat. Bei holistischer Abwägung wird durch die Suche nach übergeordneten Interessen vermieden, dass konkurrierende Interessen zu Machtkämpfen ausarten. Das stärkt den Teamzusammenhalt.
Innovationsmentalität an jedem Werktag
Innovationsdruck lässt sich in vielen Firmen nur noch von außen und mit viel Kraftaufwand erzeugen. Auch wenn strategischen Innovationen durch Führungskräfte – man denke an Henry Ford oder Steve Jobs – große Verdienste zukommen: Statt mit einer unglaublichen Anstrengung gegen 1000 Widerstände für Innovationsdruck zu sorgen, wäre es geschickter, in Ihrer Firma eine innovationsfreundliche Atmosphäre zu erzeugen. Ändern sich Kundenanforderungen allmählich, können sie über die nächsten Servicelevel-Vereinbarungen in die Schwarmarbeit einfließen. Gibt es jedoch eine Krise, ist ein Eskalationsmanagement vonnöten. Mit Best-Practice-Workshops werden dann innovative Ideen am schnellsten umgesetzt. Synchronisationsteams beseitigen Abstimmungsprobleme über die Schwarmgrenzen hinweg.